
Die Steine des Weisen
Umbau, Sanierung und Erweiterung Schloss Wittenberg
Deutscher Architekturpreis 2019
Architekturpreis des Landes Sachsen-Anhalt 2019
Das Wittenberger Schloss, von Kurfürst Friedrich dem Weisen ab 1489 auf den Fundamenten einer askanischen Burganlage errichtet, galt zur Zeit seiner Vollendung 1525 als einer der prächtigsten Herrschaftsbauten der Frührenaissance in Deutschland. Doch die Geschichte war nicht milde. Nachfolgende Kriege zerstörten die bauliche Pracht. Ab 1819/20 erfolgte ein harscher Umbau zur Festung und Kaserne. So blieb der Nachwelt ein großer, eher unansehnlicher Bau unterschiedlicher Nutzung neben einer der reformatorischen Erinnerungskultur schon seit 1892 gewidmeten Schlosskirche. Mit Blick auf das Halbjahrtausendjubiläum „500 Jahre Reformation“ hat die Lutherstadt Wittenberg in engem Schulterschluss mit dem Land Sachsen-Anhalt und der Evangelischen Kirche in Deutschland das Wittenberger Schlossensemble tiefgreifend umgebaut, saniert und mit zeitgenössischen architektonischen Interventionen zu einem neuen, starken Stadtbaustein der Lutherstadt werden lassen: mit neuem Besucherzentrum und Zugang zur Schlosskirche, Räumen für eine Reformationsgeschichtliche Forschungsbibliothek und das Evangelische Predigerseminar.
Schon seit den 1990er Jahren schwang die tiefe Sehnsucht in der Stadt, für das alte große Gebäude „Wittenberger Schloss“ eine zukunftsfähige Nutzung zu finden. Zuletzt und in schwieriger Gleichzeitigkeit war es u.a. Jugendherberge, Ratsarchiv und Depot der Städtischen Sammlungen und lieh dem Sammlerwerk des Julius Riemer als „Museum für Natur- und Völkerkunde“ sowie einer Reihe von Wohnungen und sogar einer Gaststätte Raum. Als nicht tragfähig erwiesen sich die Überlegungen, das Schloss zum neuen Standort der Evangelischen Akademie oder zu einem großen städtischen Museum auszubauen. Auch ein Hotel war im Gespräch. Erst das nahende Reformationsjubiläum eröffnete im Oktober 2009 in wohlwollender Übereinkunft der maßgeblichen Protagonisten – Land Sachsen-Anhalt, Evangelische Kirche in Deutschland, Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt sowie Lutherstadt Wittenberg – die Chance für eine Neuordnung der „juristischen und tatsächlichen Verhältnisse der Wittenberger Reformationsgedenkstätten“. Eine gemeinsam unterzeichnete Rahmenvereinbarung regelte nun Eigentumsverhältnisse und Verantwortungen neu und schuf die Voraussetzung, historisch gewachsene Nutzungssituationen für die Zukunft zu strukturieren: die „Große Rochade“. Mit ihr zog (nach fünfjährigem Interim) im Dezember 2017 das seit 200 Jahren im Augusteum beheimatete Evangelische Predigerseminar ins Schloss und damit unmittelbar an seine Ausbildungskirche „Schlosskirche“. Es erhielt mit dem an historischer Stelle perfekt eingepassten neuen Schlosssüdflügel zudem ein Unterkunftsgebäude samt Refektorium und Dormitorium – „Predigers Residenz“ – und bildet nun dort zusammen mit der neueröffneten Reformationsgeschichtlichen Forschungsbibliothek eine starke Adresse der Evangelischen Kirche am westlichen Stadteingang. Im Quartier des umgebauten Augusteums am Lutherhaus samt einem modernen Eingangsverbinder konzentriert sich seither ein Museums- und Bildungscampus der Stiftung Luthergedenkstätten mit mehr Platz für Ausstellungen und kultureller Bildung im Osten der Stadt. Ein geglückter städtebaulicher Ringtausch, den der Sanierungsträger der Lutherstadt Wittenberg, die SALEG, über all die Jahre begleitete und als Projektsteuerer für die Um-, Neu- und Sanierungsbauten dem treuhänderischen Bauherrn Lutherstadt Wittenberg zur Seite stand.
Im Mittelpunkt aller Bemühungen: Das alte Schloss. Es wurde der Empfehlung der Denkmalpflege folgend in seiner Anmutung als preußische Festung belassen und saniert, jedoch wo nötig und möglich zeitgenössisch weitergebaut. Denn die Spuren der Vergangenheit sollten ablesbar bleiben, so der federführende Architekt Prof. José Gutierrez Marquez von BFM Berlin, der für diese Sicht die Metapher des „Palimpsests“, einem Begriff aus der Handschriftenforschung für ein mehrfach beschriebenes Pergament, aufgerufen hatte.
Eingedenk dieser Intentionen entstand vom erdgeschossig eingerichteten Besucherempfang ein neuer Zugang vom Schloss in die Schlosskirche. Ein hohes zweiflügeliges, künstlerisch gestaltetes Bronzetor gewährt nun Einlass in ein glanzvoll saniertes Gotteshaus in der wilhelminisch-historistischen Fassung Friedrich Adlers von 1892, das man mit hochmoderner wie gut versteckter Tontechnik auszustatten verstand (cuboidoo architekten BDA, Halle/Saale). Ein zur Festungszeit eingelassenes Zwischengeschoss im ersten Stock ist heute Büchermagazin, das fortifikatorisch tonnengedeckte 2. Obergeschosses nimmt Lesesaal und Freihandmagazin auf. Gemeinsam bilden sie die Reformationsgeschichtliche Forschungsbibliothek, die die wertvollen Bestände des Evangelischen Predigerseminars und der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt erstmals für Forschung und Wissenschaft zusammenführt. Die gleichermaßen karg-schlichten wie ebenmäßig-schönen, sich entlang einer flurlangen Enfilade entwickelnden Bibliotheksräume sind für deren Leserschaft mit niedrig gehaltenen, edlen Eichenholzmöbeln zur besseren Übersicht und Belichtung ausgestattet worden. Die erwartet hohen und engen Regalreihen einer Bibliothek finden sich hingegen nur im den Mitarbeitern vorbehaltenen Magazingeschoss.
Das Dachgeschoss des Westflügels war dereinst meterhoch mit Erdreich zum Schutz vor Brandbomben befestigt. Heute bekrönt eine Reihe kühner Kuben den Bau: der neue Sitz des Evangelischen Predigerseminars. In einer „Alternanz“ von offenen Patios und geschlossenen Räumen wird die Erinnerung an einen klösterlichen Garten wach, große Verglasungen eröffnen atemberaubende Ausblicke: hoch auf den Schlosskirchenturm und durch schießschartentiefe Fensteröffnungen hinunter in die alte Stadt.
Erreichbar ist das alles – übrigens auch für einen kulturhistorischen Rundgang durch die Geheimnisse des alten neuen Schlosses – über eine bemerkenswerte Architekturleistung des Heute: zwei einer Skulptur ähnelnden, vor alten Mauersteinen wie schwebend eingebauten Ortbeton-Treppenhäuser mit samtweicher Marmorino-Anmutung in ihrem Innern, die ambitioniert und exemplarisch zeigen, wie es gelingen kann, die Authentizität eines Gebäudes zu bewahren und gleichzeitig im Puffer des UNESCO-Welterbes „Schlosskirche“ zeitgenössisch zu bauen. „Damit“, so SALEG-Projektleiter Martin Stein, „konnten Planungen für den Umbau und angemessene Nutzungen des Wittenberger Schlosses, die bereits vor mehr als 25 Jahren begonnen hatten, 2017 zum Abschluss gebracht werden.“ Die tiefe Sehnsucht aus den 1990er Jahren ist gestillt. Die Steine Friedrichs des Weisen sind in der Gegenwart angekommen.
Projektbeteiligte (Auswahl)
- Bauherr
- Lutherstadt Wittenberg für die gemeinsame Projektgruppe „Rahmenvereinbarung 2017“ des Landes Sachsen-Anhalt, der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Lutherstadt Wittenberg
- Bauherrenvertreter und Steuerung
- Sachsen-Anhaltinische Landesentwicklungsgesellschaft mbH SALEG als Sanierungstreuhänder der Lutherstadt Wittenberg
- Architektur/Gebäudeplanung
- BFM Bruno Floretti Marquez Architekten, Berlin
- Tragwerksplanung
- Ifb Frohloff Staffa Kühl Ecker, Berlin
- Bauleiter
- AADe Atelier für Architektur & Denkmalpflege, Köthen DGI Bauwerk Gesellschaft von Architekten, mbH, Berlin
- Technische Gebäudeausrüstung
- INNIUS GmbH, Dresden
- Barrierefreies Bauen
- Kompetenzzentrum für Barrierefreiheit Sachsen-Anhalt
- Gutachter/Sachverständige
- Büro für Denkmalpflege und Bauforschung Maurizio Paul, Halle (Saale)
- Denkmalpflege/Archäologie
- Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Halle (Saale)
- Künstlerische Gestaltung der neuen Verbindungstür zur Schlosskirche
- Marco Flierl, Bildhauer und Kunstgießer, Berlin
- Fotos
- Stefan Müller, Berlin
- Projektmanagement
- Martin Stein, SALEG, Sachsen-Anhaltinische Landesentwicklungsgesellschaft mbH